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Philippinische Pflegekräfte: Formulare statt Pflege
Philippinische Fachkräfte würden gern die Alten in Deutschland pflegen. Doch die deutsche Bürokratie treibt sie in andere Länder.
Von Felix Lill aktualisiert am 26. Oktober 2022, 20:11 Uhr
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Philippinische Pflegekräfte: Eine philippinische Pflegerin in einem Heim in Meißen
Eine philippinische Pflegerin in einem Heim in Meißen © Hannes Jung/laif
Formulare statt Pflege – Seite 1
Als seine Klienten vom Termin bei der deutschen Botschaft in Manila zurückkommen, erkennt Jason Heinen schon an ihren Gesichtsausdrücken: Da ist wieder etwas schiefgelaufen. "Wie war’s?", fragt der 49-Jährige die drei jungen Erwachsenen auf Tagalog, einer der auf den Philippinen verbreiteten Sprache. "Sie haben gesagt, uns fehlen noch Dokumente", druckst die eine. "Aber eigentlich hatten wir alles dabei!" Jason Heinen verdreht die Augen. "Manchmal verstehe ich es einfach nicht", murmelt er dann auf Deutsch.
Heinen vermittelt philippinische Pflegekräfte nach Deutschland, wo sie dringend benötigt werden. Jedenfalls in der Theorie. "Die deutsche Botschaft hat jetzt verlangt, dass die Kandidatinnen neben der Bescheinigung ihres Deutschniveaus noch eine Anmeldung für einen weiterführenden Kurs in Deutschland vorlegen", sagt er. Dabei sei dieser Nachweis durch Abstimmungen mit dem deutschen Krankenhaus, in dem die Bewerber bald arbeiten werden, schon vorhanden. Bis alle Fragen geklärt sind, wird Heinen also seine Klienten, die heute eigentlich ihr Arbeitsvisum für Deutschland abholen wollten, zunächst zurück in ihre Heimatprovinzen im Süden schicken. "Für den nächsten Behördengang muss ich dann noch mal einen Flug nach Manila buchen. Das wird alles teuer", sagt eine der Bewerberinnen, die ihren Namen nicht nennen will, um es sich mit ihrem künftigen Arbeitgeber nicht zu verscherzen. Aber sie fügt hinzu: "Ich habe nicht mehr den Eindruck, dass man mich in Deutschland unbedingt haben will."
Jason Heinen, 49, vermittelt Pflegekräfte nach Deutschland. Er hat selbst 25 Jahre als Pfleger in Deutschland gearbeitet. © privat
Jason Heinen soll eigentlich ein deutsches Problem lindern, den Pflegenotstand. Doch dabei bekommt er es mit einem anderen deutschen Problem zu tun: der Bürokratie.
Gesucht: 20.000 Pflegekräfte
Im Zentrum von Manila leitet der Philippiner, der selbst über 25 Jahre als Pfleger in Deutschland gearbeitet hat, die Repräsentanz von Saisy Professionals. Das Unternehmen vermittelt ausländische Pflegekräfte in die Bundesrepublik. Dienstleister wie Heinen – und die Arbeitskräfte, die er bereitstellt – müssten inmitten des deutschen Pflegenotstands eigentlich hofiert werden. 20.000 Pflegestellen sind in Deutschland laut der Bundesagentur für Arbeit unbesetzt. Wegen der alternden Bevölkerung dürften bis 2030 eine halbe Million solcher Fachkräfte fehlen.
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Die Philippinen könnten da helfen. Kaum irgendwo hat man sich derart auf den Export von Arbeitskräften spezialisiert wie in dem südostasiatischen Land mit seinen 110 Millionen Einwohnern. Schon in den 1980er-Jahren, als die Bevölkerung stark wuchs, aber der Arbeitsmarkt prekär blieb, begann die Regierung mit der gezielten Entsendung von Arbeitskräften. Rund zwei Millionen Philippinerinnen und Philippiner arbeiten laut amtlicher Statistik heute auf den Frachtschiffen, Baustellen und in Krankenhäusern reicherer Länder, rund 17.000 davon in Deutschland.
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Heinen führt durch ein modernes Gebäude, das aus kleinen Einzelbüros, Besprechungszimmern und einer aufgeräumten Kaffeeküche besteht. Hier sind deutsche Jobausschreibungen ordentlich an Pinnwände geheftet. Die Mitarbeiter leiten Deutschkurse für ihre Klienten und führen Gespräche mit deutschen Krankenhäusern. "Vor Anfragen von deutschen Kliniken können wir uns kaum retten", sagt Heinen.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 43/2022. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
"Wenn wir die Unterlagen in Deutschland einreichen, kommt fast immer ein Defizitbescheid zurück."
Jason Heinen, Personalvermittler
Rund 1000 Stellenangebote deutscher Krankenhäuser und Pflegeheime liegen Saisy Professionals derzeit insgesamt vor. Aber Heinen sagt: "Es wird allmählich schwierig, diese Plätze mit philippinischen Bewerbern aufzufüllen. Deutschland konkurriert mit anderen Ländern, die auch händeringend nach Pflegekräften suchen."
Und andere Länder sind teilweise viel unbürokratischer. So absolviert man auf den Philippinen üblicherweise ein vierjähriges Bachelorstudium, um Pflegekraft zu werden. Der Abschluss wird etwa im Mittleren Osten, in Australien, Kanada oder Großbritannien meist ohne Weiteres anerkannt. "Aber wenn wir die Unterlagen in Deutschland einreichen", sagt Heinen, "kommt fast immer ein Defizitbescheid zurück."
Andere Länder erscheinen aufgrund der Bezahlung attraktiver
Warum ist das so? Die Bezirksregierung Münster, die für das Land Nordrhein-Westfalen das Niveau ausländischer Pflegeausbildungen überprüft, teilt dazu auf Anfrage mit: "Vergleichsgrundlage für die Ausbildungen, die im Ausland erworben wurden, ist die jeweilige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des entsprechenden reglementierten Referenzberufes in Deutschland."
Die studierten Philippiner können nach Auffassung deutscher Behörden offenbar nicht mit in Deutschland ausgebildeten Fachkräften mithalten. "Das Studium umfasst in den Philippinen einen hohen Anteil an Stunden in einem sogenannten Skillslab", heißt es von der Bezirksregierung. Aber: "Diese Stunden werden in Deutschland dem theoretischen und praktischen Unterricht zugeordnet und nicht der praktischen Ausbildung. So ergibt sich für die Philippinen ein Stundenumfang von 1776 Stunden in der praktischen Ausbildung und nicht die erforderlichen 2500 Stunden."
Für Philippiner, die trotzdem nach Deutschland wollen, hat das zwei bedeutende Konsequenzen: erstens Nachsitzen. Und zweitens weniger Geld. "Wenn man einen Defizitbescheid hat, muss man in Deutschland noch eine mehrmonatige Zusatzausbildung machen", erklärt ein Pfleger, der gerade seinen Sprachtest bestanden hat und in wenigen Tagen nach Nordrhein-Westfalen ziehen wird, um dort in einem Krankenhaus zu arbeiten. "Aber bis wir die Zusatzausbildung bestanden haben, kriegen wir nur einen Vertrag als Pflegehilfskraft." Oft dauert das ein halbes Jahr.
20.000
Pflegestellen
sind in Deutschland laut der Bundesagentur für Arbeit derzeit unbesetzt
Deutschland bietet nicht genug
Das Einstiegsgehalt für eine Hilfskraft von rund 2300 Euro brutto, etwa 1600 Euro netto, ist international kaum wettbewerbsfähig. "Eine Wohnung, die 600 Euro kostet, kann man sich davon fast nicht leisten", sagt Jason Heinen und rechnet vor: "Im Grunde ziehen diese Menschen ja in ein anderes Land, um von dort einen Teil ihres Gehalts zurück nach Hause zu schicken und ihre Familien zu unterstützen." Die Geldrücksendungen der Millionen Auslandsphilippiner sind Teil der Entsendungspolitik und bilden eine wichtige Stütze der Volkswirtschaft. Sie betragen rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
"Die Zahl der Klienten, die nach Deutschland wollen, hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren halbiert."
Jason Heinen, Personalvermittler
So erscheinen andere Länder wie Kanada, Australien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, wo Pflegekräfte von Anfang an bis zu doppelt so viel verdienen können, zunehmend attraktiv. Zwar haben Deutschland und die Philippinen erst im Juni ein Abkommen vereinbart, das die Zahl philippinischer Pflegekräfte in Deutschland von derzeit rund 6000 deutlich erhöhen soll. Es werde "hoffentlich zur Ausdehnung eines gegenseitig vorteilhaften Austauschs zwischen Deutschland und den Philippinen führen", sagte Deutschlands Botschafterin in Manila, Anke Reiffenstuel, nach der Unterzeichnung. Allerdings haben sich inmitten der Pandemie auch andere Staaten um die Gunst der Philippiner bemüht.
"Die Zahl der Klienten, die nach Deutschland wollen, hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren halbiert", sagt Jason Heinen. Noch gebe es mehr Interessenten als Stellenausschreibungen. Aber Heinen befürchtet, dass sich dies bald ändert. In den Philippinen wurde der Mindestlohn in öffentlichen Krankenhäusern während der Pandemie um gut 40 Prozent auf rund 615 Euro erhöht. "Gemessen an den Lebenshaltungskosten stehen die Philippinen damit nicht mehr so schlecht da", findet Heinen. Mittlerweile will auch die philippinische Regierung mehr Pflegeprofis im Land halten.
Ein Pluspunkt: das Sozialsystem
Trotz der verschärften Konkurrenzlage könnte Deutschland wohl ein begehrter Lebensmittelpunkt sein. Die deutsche Botschaft wirbt mit "den hohen Standards deutscher Arbeitsgesetze, dem umfassenden sozialen Sicherungssystem inklusive Gesundheits-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung". Bei Saisy Professionals betont man zudem, dass in Deutschland die Gehälter pünktlich gezahlt werden, relativ wenige Überstunden anfallen und die Demokratie hohe Freiheiten und öffentliche Sicherheit bietet.
Dennoch ärgert sich Jason Heinen manchmal über das Land, in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. "Es muss wirklich nicht sein, dass Deutschland den philippinischen Abschluss nicht anerkennt." Um die Lücken zu schließen, brauche es keine mehrmonatige Zusatzausbildung, das lerne man in ein paar Wochen im Job.
Aber Flexibilität scheint in deutschen Krankenhäusern und Behörden nicht oberste Priorität zu sein. Zusätzlich zu Deutschkenntnissen auf B2-Level, das ein "fortgeschrittenes Niveau" bestätigt, wird künftig noch ein Fachsprachtest verlangt. Eine Art Pflege-Deutsch, das die philippinischen Pflegerinnen und Pfleger ebenfalls beherrschen müssen. Aus deutscher Sicht zwar verständlich. Aus philippinischer Perspektive aber möglicherweise ein weiterer Grund, sich im englischsprachigen Ausland nach einem Job umzusehen. Englisch ist ohnehin Amtssprache auf den Philippinen, die meisten müssen zum Pflegen nicht erst eine neue Sprache lernen.